Abtreibung ist Mord – Die verschlingende Mutter und die Sprache der Verdrängung
Jede Epoche zeigt ihre Wunden daran, wie sie mit Leben und Tod umgeht. Unsere Zeit ist geprägt von einer eigentümlichen Umkehrung: Was einst Leben schützte, entscheidet heute über sein Ende – im Namen von Freiheit, Mitleid oder Fürsorge.
1. Der Schatten des Mitgefühls
Die Geste wirkt barmherzig, doch unter ihr liegt Erschöpfung und Angst. Es ist nicht der Blick Marias, die das Leben in Demut trägt, sondern jener der verschlingenden Mutter, die nicht aus Liebe, sondern aus Furcht handelt. Sie liebt ohne Geist – und ihre Liebe kehrt sich nach innen, wird Besitz.
2. Die verschlingende Mutter
In der Sprache C. G. Jungs ist die verschlingende Mutter der Schatten des Archetyps des Weiblichen. Sie ist jene, die einst genährt und beschützt hat, doch wenn sie sich vom Geist trennt, wird sie zur Macht, die nicht mehr trägt, sondern erstickt. Ihre Fürsorge wird zur Kontrolle, ihre Barmherzigkeit zur Herrschaft, ihr Mitgefühl zur Impulsreaktion, die beseitigt, was sie nicht erträgt.
Abtreibung ist in diesem Sinn ein Symbol: das Bild einer Kultur, die das, was sie hervorbringt, nicht mehr tragen kann. Sie zerstört nicht aus Hass, sondern aus der Angst, vom Leben selbst überwältigt zu werden. Was einst der Schoss der Schöpfung war, wird zum Ort der Verneinung.
3. Die Flucht vor der Bedeutung
Wo Transzendenz schwindet, zerfällt Sinn zu Psychologie und Verantwortung zu Gefühl. Der moderne Mensch erträgt die Schwere seiner Taten nicht mehr und flüchtet in Sprache.
Neue Begriffe entstehen, Wörter, die das Unaussprechliche mildern: „Wahl“, „Eingriff“, „Unterbrechung“. Sprache wird zur Betäubung. Sie erschafft Distanz zum Heiligen, und was ein Akt der Ehrfurcht sein sollte, wird zur technischen Korrektur des Schicksals.
Diese sprachliche Verschleierung ist kein bewusster Betrug, sondern Ausdruck der Angst – der Angst, Leben und Tod ohne Geheimnis ertragen zu müssen.
4. Mitleid ohne Geist
Im Kern liegt ein Mitleid, das seine Tiefe verloren hat. Es will Schmerz vermeiden, nicht verwandeln. Es handelt schnell, impulsiv – um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Doch wahres Mitgefühl, das dem Geist entspringt, beseitigt das Leiden nicht, sondern verwandelt es durch Liebe.
Was sich Barmherzigkeit nennt, ist oft Erschöpfung: die Unfähigkeit, die Last des Lebens zu tragen, der Schrei einer Kultur, die ihre eigene Frucht nicht halten kann. So wird das Mitleid, das tötet, zu einem Spiegel unseres Zeitgeistes – eine Liebe ohne Tiefe, ein Mitgefühl ohne Geist.
5. Der Verlust der Beziehung
Wenn die Beziehung zum Schöpfer verloren geht, wird das Leben zum Eigentum. Es wird gemessen, gewogen, beurteilt – nach Nutzen und Bequemlichkeit. Doch was man besitzt, darf man auch verwerfen.
So wird das, was einst ein Akt der Ehrfurcht war – das Leben zu empfangen, zu schützen, Ja zu sagen zum Unbekannten – zu einer Berechnung. Ohne Geheimnis wird der Schoss zur Entscheidung, nicht mehr zur Offenbarung.
Doch die Seele weiss. Tief im Innern bleibt ein stilles Wissen, eine Trauer über ein Mysterium, das abgebrochen wurde.
Denn ein Leben ohne Moral ist nur Existenz. Ohne Beziehung zum Geist verliert der Mensch seine Mitte; er lebt, aber er ist nicht mehr lebendig. Er bewegt sich, aber er wächst nicht mehr. Er überlebt – ohne zu werden.
Ohne Gott verliert der Mensch seine Seele und wird zur Maschine – funktional, steuerbar, austauschbar. Ein Wesen, das getötet werden kann, ohne dass Gewissen oder Moral noch Widerstand leisten. Denn wer das Heilige im Menschen nicht mehr erkennt, kann auch seine Vernichtung rechtfertigen.
5a. Der falsche Schutzmantel der Selbstbestimmung
Der moderne Mensch verbirgt seine Angst vor dem Leben hinter dem Wort Selbstbestimmung. Was wie Freiheit klingt, ist oft nichts anderes als Eigensucht – der Versuch, sich von jeder Verpflichtung gegenüber dem Leben zu lösen. So wird Selbstbestimmung zum falschen Schutzmantel, unter dem das Ego seine Grenzenlosigkeit heiligt.
Doch das Leben, das im Schoss heranwächst, ist kein Besitz, sondern ein eigenes Wesen, ein eigener Wille, eine eigene Seele. Das Kind ist nicht Teil der Mutter, sondern Gast ihres Leibes – ein neues, von Gott berufenes Individuum.
Im Archetypischen entspricht dem ungeborenen Kind der Keim des Göttlichen, der sich in der Welt verkörpern will. Wer ihn abweist, weist das Unbekannte zurück, das die Seele selbst verwandeln könnte.
Hier hätte auch das väterliche Prinzip seinen Platz – nicht als Macht, sondern als Hüter. Der Vater steht symbolisch für Ordnung, Richtung und Schutz. Doch in unserer Zeit wurde auch ihm diese Aufgabe genommen. Er kann sein Kind nicht mehr schützen. Das Leben, das aus ihm hervorgegangen ist, liegt nicht mehr in seiner Verantwortung, sondern unter der Deutungshoheit einer Gesellschaft, die das Väterliche vergessen hat.
So wird jede Abtreibung – symbolisch gesehen – auch zur Trennung von Vater und Kind, zur Auflösung der Einheit, aus der das Leben geboren wurde. Es ist immer auch die Verletzung eines väterlichen Ursprungs, der keinen Ausdruck mehr finden darf.
Und in der modernen Formel „Mein Körper, meine Wahl“ liegt eine tiefe innere Spaltung. Denn wer das Leben in sich trägt, trägt mehr als nur den eigenen Körper – er trägt das Geheimnis der Schöpfung. Wenn diese Verbindung zerschnitten wird, verliert nicht nur das Kind sein Dasein, sondern die Seele der Frau etwas von ihrem eigenen Wesen. Symbolisch gleicht dies einem inneren Selbstmord: der Zerstörung des eigenen Mutter-Seins, des schöpferischen Prinzips, das Leben weitergeben wollte.
Und auch das Vater-Werden des Mannes wird darin ausgelöscht – nicht als biologische, sondern als seelische Kraft. So trifft der Verlust beide: das Weibliche, das nicht mehr gebiert, und das Männliche, das nicht mehr schützt.
Denn wo das Mütterliche ohne das Väterliche bleibt, wird Liebe zur Selbstbezogenheit. Und was als Fürsorge erscheint, wird zur Angst, die tötet.
6. Der Weg der Heilung
Die verschlingende Mutter ist nicht böse – sie ist unbewusst. Sie handelt aus Angst, nicht aus Bosheit. Ihre Heilung beginnt, wenn sie erkennt, dass Liebe nicht Besitz ist, und Fürsorge nicht Kontrolle.
Wahre Sorge bedeutet nicht, das Gewicht des Lebens zu vermeiden, sondern es zu tragen – in Vertrauen. Erst wenn das Mitgefühl wieder mit dem Geist verbunden ist, hört es auf zu zerstören und beginnt erneut zu erschaffen.
7. Das stille Gebet
Die Aufgabe unserer Zeit ist nicht Verurteilung, sondern Erwachen – das Wiedererkennen in jedem zerstörerischen Akt eines Schreis nach Heilung.
Sich zu erinnern, dass jedes Leben – auch das ungelebte, auch das verworfene – Teil eines göttlichen Mysteriums bleibt.
Und vielleicht, eines Tages, wird die verschlingende Mutter sich selbst erkennen: nicht mehr als Macht, die nimmt, sondern als Herz, das trägt; nicht mehr als Angst, sondern als Liebe, die wieder glauben kann.
Nicht das Mitleid rettet das Leben, sondern die Liebe, die es trägt.
— Meister Reding, Kloster Nigredo