Sterbehilfe – Wenn Mitleid tötet – Die verschlingende Mutter
Die „verschlingende Mutter“ handelt nicht offen zerstörerisch, sondern passiv-aggressiv, getarnt als Fürsorge. Sie tötet nicht selbst – sie lässt dich töten, im Namen der Liebe, der Verantwortung oder der Moral. So wird sie zur Macht, die den Willen des anderen unterwandert, indem sie ihn glauben lässt, es sei sein eigener. Sterbehilfe ist ein Symptom der verschlingenden Mutter, unser Zeitgeist.
Das Ende des Lebens und die Versuchung des Mitleids
Sterbehilfe erscheint unserer Zeit als Ausdruck von Barmherzigkeit. Doch unter der Oberfläche dieses Begriffs wirkt ein anderes Prinzip: Mitleid, das tötet. Denn das Mitleid, das keinen Sinn mehr im Leiden erkennt, verwandelt sich in Macht. Was als Liebe beginnt, endet als Kontrolle über Leben und Tod.
So steht der moderne Mensch am Sterbebett nicht mehr als Begleiter, sondern als Entscheider. Er kann das Leid nicht mehr aushalten, weil er das Geheimnis des Leidens vergessen hat.
Der symbolische Anfang – der blinde Vater
Das Drama unseres Zeitalters begann, als man den blinden Vater tötete – zuerst symbolisch, dann tatsächlich. Aus Mitleid nahm man ihm das Leben, weil man sein Leiden nicht mehr ertrug.
In dieser Tat offenbart sich der Bruch zwischen den Generationen, zwischen Himmel und Erde, Geist und Natur. Der Vater steht im Mythos für Ordnung, Mass, Ursprung und Richtung.
Wenn er fällt, bricht das Männliche als Prinzip der Unterscheidung zusammen.
Das Mitleid, das ihn „erlösen“ wollte, hat in Wahrheit den göttlichen Bezug zerstört. Damit wurde der Weg frei für jene seelische Bewegung, die sich heute Sterbehilfe nennt – ein Akt des Mitleids, in dem die Menschheit den Vater endgültig ersetzt.
Mitleid und Mitgefühl – zwei Wege des Herzens
Wahres Mitgefühl ist Teilnahme am göttlichen Geheimnis. Es bleibt, wo es weh tut. Es sieht das Leid, aber es versucht nicht, es sofort zu beseitigen. Es ist langfristig – es begleitet, verwandelt und heilt über Zeit. Mitgefühl ist bereit, mitzuleiden, weil es an den Sinn des Leidens glaubt.
Mitleid dagegen ist eine seelische Reaktion ohne Tiefe. Es entsteht im Schmerz des Augenblicks und will ihn sofort beenden. Es will das Leiden auslöschen, den Schmerz beseitigen – nicht aus Liebe, sondern aus innerer Unruhe. So wird Mitleid kurzfristig, impulsiv, blind. Es sieht nur das Leid, nicht den Weg durch das Leid.
Und so wird es zur grausamen Barmherzigkeit: zu einem Akt der „Hilfe“, der das Leben beendet, weil der Mensch keinen Sinn mehr sieht – weder im Schmerz noch in der Zeit.
Hier beginnt die geistige Tragödie unserer Epoche: Sterbehilfe wird zum sichtbaren Zeichen eines Mitleids, das Gott verloren hat.
Die verschlingende Mutter – das Mitleid ohne Geist
C. G. Jung sah in der „Terribilis Mater“, der furchtbaren Mutter, das dunkle Gegenbild des göttlichen Weiblichen. Sie nährt nicht mehr, sie verschlingt. Sie liebt nicht, sie besitzt.
Und sie tötet aus Mitleid – weil sie das Leiden nicht erträgt, das sie selbst nicht erlösen kann.
Doch die verschlingende Mutter tötet selten selbst. Sie ist passiv-aggressiv – sie lässt töten.
Sie handelt durch andere, durch deren Schuldgefühl und durch das moralische Diktat des Mitleids. Sie flüstert: „Hilf ihm doch… beende sein Leiden… du bist doch gut.“ So wird der andere zum Werkzeug ihres unbewussten Willens. Er glaubt, frei zu handeln – und dient doch einer Macht, die sich als Liebe verkleidet, aber Besitz ist.
In dieser Gestalt begegnet uns heute die Idee der Sterbehilfe. Das Mütterliche, das beschützen will, nimmt das Recht auf Entscheidung an sich und will „erlösen“, ohne auf den Erlöser zu warten. Im Namen des Mitgefühls greift die Menschheit in das Geheimnis des Todes ein.
Was als Fürsorge erscheint, ist oft Angst – Angst vor Ohnmacht, Alter, Abhängigkeit, Schmerz.
So zeigt sich die verschlingende Mutter als kollektives Prinzip einer Kultur, die das Leiden nicht mehr tragen, sondern nur noch beenden will.
Wenn der Himmel schweigt
Wo Gott nicht mehr das Mass des Lebens ist, wird das Mitleid zur höchsten Moral. Doch ohne Gott verliert auch die Moral ihr Herz. Dann zählt nicht mehr das Sein, sondern das Funktionieren. Leben darf nur sein, solange es „würdig“ erscheint.
So wird das Mitleid, das tötet, zum Spiegel einer Welt, die das Leiden auslöschen will,
statt es zu verwandeln. Aber das Leiden ist kein Fehler der Schöpfung, sondern Teil ihres Geheimnisses. Wer es beseitigt, zerstört die Tiefe des Menschseins.
Das Opfer ohne Erlösung
Die alten Religionen brachten Opfer, um die Götter zu besänftigen. Heute opfert der Mensch aus Angst – nicht mehr Tiere oder Feinde, sondern sich selbst.
Sterbehilfe ist das moderne Opfer im Tempel des Mitleids. Sie stillt das schlechte Gewissen der Lebenden und verwehrt dem Sterbenden den letzten Weg: die Reifung im Angesicht der Ewigkeit.
So wird der Tod nicht mehr angenommen, sondern organisiert. Das Heilige wird durch Effizienz ersetzt. Und der Mensch verliert das, was ihn Mensch sein lässt: die Hingabe.
Am Ende ist Sterbehilfe nichts anderes als Beihilfe zum Selbstmord – doch in seelischer Tiefe geschieht mehr: es ist der Sieg der verschlingenden Mutter, die nicht selbst tötet, sondern dich töten lässt – im Namen der Liebe.
Die Wiederkehr des wahren Mitgefühls
Wahre Barmherzigkeit tötet nicht. Sie bleibt, wenn andere fliehen. Sie begleitet durch das Dunkel, weil sie an das Licht glaubt, das dahinter wartet. So stand Maria unter dem Kreuz – nicht als Helferin des Todes, sondern als Zeugin der Liebe, die das Leiden verwandelt.
Wenn wir wieder lernen, so zu lieben, dann verliert der Tod seine Macht. Denn wer mit Gott leidet, erlöst das Leid – er löscht es nicht aus.
„Nicht das Mitleid erlöst die Welt,
sondern die Liebe, die das Leid trägt.“
— Meister Reding, Kloster Nigredo